Autostadt Story: Bugatti Type 57 Atlantic – eine Ikone voller Rätsel
Im ZeitHaus der Autostadt in Wolfsburg befindet sich eine Rekonstruktion des Bugatti Type 57 Atlantic. Dabei handelt es sich um einen echten Type 57 – mit einer perfekt nachgefertigten Atlantic-Karosserie. Er gilt als Design-Ikone und vielleicht schönster Sportwagen der Welt. Der Text von Jens Meiners ist in der Ausgabe November/Dezember 2020 des Magazins AUTO STADT & LEBEN erschienen.
Nichts ist zu schön, nichts ist zu teuer: Nach dieser Maxime richtete der geniale Automobilkonstrukteur Ettore Bugatti sein ganzes Leben aus. Der Nachwelt hinterließ er einige der anspruchsvollsten und schönsten Automobile aller Zeiten. Doch – selbst unter diesen nimmt der Bugatti Type 57 „Atlantic“ noch eine Sonderstellung ein.
Es sind oft die Träume der Kindheit, die Sammler und Automobilliebhaber beflügeln. Und so müsste das Interesse an den historischen Sportwagen von Bugatti eigentlich langsam nachlassen: Viele wichtige Oldtimer der Elsässer Manufaktur sind bereits vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Doch bei dieser Marke ist alles anders. Design und Konstruktion sind so außergewöhnlich, dass ihre auratische Wirkung noch nach mehr als 80 Jahren unverändert anhält. Es fällt schwer, unter der Vielzahl der bedeutenden Bugatti Modelle, die traditionell lediglich mit einer lakonischen Nummer bezeichnet wurden, die herausragenden Typen zu identifizieren.
Sicher gehört der leichte Rennwagen Type 35 dazu, auch der Type 50 mit seiner ungemein modernen Dachform – oder der in immerhin 800 Einheiten gebaute Type 57. Unter der letztgenannten Baureihe ragt eine Variante turmhoch empor: der Type 57 Atlantic, nur viermal gebaut, drei davon existieren noch. Die Bezeichnung Atlantic erhielt das Coupé zu Ehren des Fliegerhelden Jean Mermoz, der 1936 bei dem Versuch einer Atlantiküberquerung ums Leben kam. Stilistisch abgeleitet ist der Type 57 Atlantic vom verschollenen Type 57 C Aérolithe aus dem Jahr 1934. Von diesem hat er die charakteristische Kammlinie übernommen, die sich von der Motorhaube über das Dach bis ins Heck fortsetzt. Beim Aérolithe gab es einen technischen Grund dafür: Der verwendete Werkstoff Elektron, eine Aluminium-Magnesium-Legierung, ließ sich nicht schweißen, sondern nur vernieten. Beim zwei Jahre später lancierten Type 57 Atlantic mutierte das nunmehr technisch überflüssige Merkmal zum bloßen Gestaltungselement. Der Kühlergrill wirkt harmonischer als beim Aérolithe, die Proportionen bleiben mit der langen Motorhaube sowie dem rundlichen und nach hinten abfallenden Dach dramatisch.
Wie kaum ein anderes Fahrzeug repräsentiert der Bugatti Type 57 Atlantic mit sinnlichen Proportionen, schwungvollen Formen und reduzierter Opulenz das Formenrepertoire des Art Déco. Dabei stehen die technischen Reize den optischen in keiner Weise nach: Der 3,3 Liter Achtzylinder-Reihenmotor leistet in seiner per Kompressor aufgeladenen Form rund 200 PS, und das bedeutet eine Spitzengeschwindigkeit von mindestens 200 Stundenkilometern. Damals war das ein geradezu unglaublicher Wert. Lediglich vier Autos haben das Werk verlassen, sie alle hatten eine bewegte Geschichte. Der erste Type 57 Atlantic, der einzige ohne Kompressor, wurde an den Londoner Bankier Baron Victor Rothschild ausgeliefert; der Wagen erlitt 1941 einen Motorschaden und kam 1971 in die Hände eines US-Sammlers. Heute steht er im kalifornischen Mullin Automotive Museum. Das zweite Fahrzeug, bekannt als „La Voiture Noire“, gehört Ettore Bugattis Sohn Jean persönlich; es diente als Foto- und Ausstellungsmodell und wurde immer wieder an Rennfahrer verliehen. Doch bereits 1941, fünf Jahre nach der Fertigstellung, verliert sich die Spur. Angeblich wurde das Auto nach Bordeaux verschifft, um es vor der deutschen Besatzungsmacht in Sicherheit zu bringen; möglicherweise ist es beim Transport untergegangen. Doch einige Liebhaber lassen sich nicht von der Schatzsuche abbringen: Vielleicht schlummert die Preziose noch in irgendeiner französischen Scheune…
Im dritten Type 57 Atlantic, der an den Pariser Unternehmer Jacques Holzschuh ausgeliefert wurde, kam der Zweitbesitzer Rene Chatard 1955 bei einem schweren Unglück an einem Eisenbahnübergang ums Leben. Das Auto wurde jahrelang eingelagert, erst mehr als ein Jahrzehnt später begann eine aufwändige Restaurierung mit einer großen Zahl von Nachfertigungen. Heute präsentiert sich das Auto in perfektem Zustand. Das vierte Exemplar wurde zwei Jahre nach seinen Schwestermodellen gebaut, nämlich 1938, und zunächst an den britischen Tennisspieler Richard B. Pope verkauft. Seit 1988 gehört es Ralph Lauren, Gründer des gleichnamigen Unternehmens für Konfektionswaren der gehobenen Preisklasse. Mit seiner kompakten, für die damalige Zeit überaus modernen und kraftvollen Form inspiriert der Type 57 Atlantic das Sportwagendesign bis heute, ganz besonders bei der Marke Bugatti. Die Kammlinie ist stilprägend geworden, und der Type 57 Atlantic hat zuletzt zwei Einzelstücke inspiriert: eine 2015 entstandene, kompakte und fast unbekannte Studie mit V8-Motor – und den 2019 gezeigten Solitär „La Voiture Noire“, der einen Preis von 19 Millionen Euro erzielt haben soll.
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